Samenbanken für Apfel, Salat & Co.

Sigrun Saunderson | Universum Magazin 04/2008


Was der WWF für gefährdete Tierarten ist, das sind die "Seedsavers" für gefährdete Obst- und Gemüsesorten. Nur weil sie altes Saatgut sammeln und vermehren, kennen wir noch die Mieze Schindler-Erdbeere und den Maschanzker Apfel. Die Erhaltung alter Sorten ist aber alles andere als eine sentimentale Spinnerei. Im Extremfall könnte sogar das Überleben der Menschheit davon abhängen.


Wer beim Wort Apfel an eine gelbe, rote oder grüne perfekt gerundete Frucht mit makelloser Schale denkt, kennt sich zumindest im Supermarkt-Sortiment aus. Der Lebensmittelhandel bietet allerdings nur eine lächerlich kleine Auswahl von massenproduzierten Sorten, darunter Golden Delicious, Gala und Granny Smith. Und diese Auswahl ist inzwischen auch rund um die Welt schon nahezu die selbe. Doch was die Frucht Malus domestica (Kulturapfel) wirklich an Formen und Geschmacksrichtungen zu bieten hat, das findet sich nicht im Supermarktregal, sondern vielleicht noch auf einem Marktstand – oder im eigenen Garten.
Welschisner, Maschanzker, Kleiner Api – nie gehört? Das sind nur einige von rund 20 000 Apfelsorten, die es weltweit gibt. Noch gibt. Denn sie sind ähnlich den Pandas und Riesenschildkröten vom Aussterben bedroht. Ihr Aussehen entspricht vielleicht nicht den Anforderungen des perfektionistischen Lebensmittelhandels. Vielleicht sind sie auch einfach nicht für den Massenanbau geeignet, weil die Bäume zu hoch wachsen oder der Ertrag nicht groß genug ist. Aber schmecken tun sie. Aber der Geschmack ist eben schon lange nicht mehr ausschlaggebend dafür, welche Apfelsorte im Einkaufswagen landet.
Denn unempfindlich, ertragreich und lang lagerfähig sind heute die magischen Eigenschaften, die über Erfolg oder Untergang einer Obstsorte auf dem Weltmarkt entscheiden. Nur so lässt sich erklären, dass es der Golden Delicious trotz seines faden Geschmacks auf Platz Eins unter den beliebtesten Supermarktäpfeln geschafft hat. Und der Kaiser-Wilhelm-Apfel, dessen köstliches Himbeeraroma schon den deutschen Kaiser verzückte, eben nicht.
Doch nicht nur die Vielfalt der Apfelsorten geht uns verloren. Ähnlich steht es um Bohnen, Getreide, Paradeiser und Salat – eigentlich um alle Kulturpflanzen, deren Früchte heute unsere Kühl- und Vorratsschränke füllen. Weltweit sind in den letzten hundert Jahren geschätzte 75 % der Kulturpflanzen unwiederbringlich verloren gegangen. Verdrängt durch restriktive Saatgutpolitik, globale Lebensmittelkonzerne und Gentechnik. Wir können uns heute darauf verlassen, dass die Karotten aus dem Wiener Supermarkt genauso aussehen und schmecken wie jene in Bregenz, Hamburg oder London.


Spezialisten statt Einheitsbrei
Vor der Industrialisierung der Landwirtschaft züchtete jeder Bauer und jede Gärtnerin das eigene Saatgut. Jeder versuchte, besonders robuste oder besonders geschmackvolle Pflanzen zu erhalten, je nach klimatischen Bedingungen und persönlichen Vorlieben. Nachbarn tauschten ihr Saatgut untereinander aus und diskutierten über Kreuzungsmethoden. So entstanden sogar innerhalb einer Region unzählige Varianten von Gemüse-, Getreide- und Obstsorten. Viele waren an die lokalen Umweltbedingungen perfekt angepasst und befriedigten unterschiedliche Ansprüche an Geschmack und Lagerfähigkeit.
Auch heute noch eignet sich die eine Birnensorte besonders zum Einkochen, die andere für Most und wieder eine andere ist zum Hineinbeißen gut. Die Rondo-Karotte wächst mit ihren kurzen Wurzeln auch in schweren Böden, während die “Ochsenherz Sonnemann” auf sehr flachgründige Böden spezialisiert ist. Die “Karotte Lovric” wiederum punktet vor allem mit ihrem süßen Geschmack und guter Lagerfähigkeit. Die Vielfalt im Selbstversorger-Garten unserer Großeltern stellte auch sicher, dass das ganze Jahr hindurch Essbares verfügbar war: Der Klarapfel-Baum trägt schon im Sommer Früchte während der Rote Pariner, ein klassischer Winterapfel, den Haushalt ab Dezember bis in den Frühling mit Äpfeln versorgt.
Diese alten Sorten spielen aber schon längst keine Rolle mehr in der industriellen Landwirtschaft. Denn was auf unseren Tisch kommt, wird üblicherweise in großen Plantagen angebaut und mit hohem Aufwand vor Krankheiten geschützt und frisch erhalten. Auch das Saatgut wird in Masse produziert, und an die einzelnen Bauern verkauft, die sich kaum noch mit eigener Saatgutvermehrung aufhalten. So bleiben auch unter den kleinen Bauernhöfen nur noch wenige Sorten im Umlauf. Die alte Vielfalt findet man noch in vereinzelten privaten Gärten – und im Sortenarchiv der Arche Noah, des österreichischen Vereins für die Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt.


Erhaltung durch Nutzung
Weltweit existieren rund 1 400 solcher Vereine und Sortenarchive. Die österreichische Arche Noah, der deutsche Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt, die irischen und die amerikanischen Seed Savers sammeln aber nicht nur das Saatgut, sondern bauen in ihren Vermehrungsgärten vergessene Obst- und Gemüsesorten wieder an und fungieren als Saatgut-Tauschbörse für Landwirte und Hobbygärtner. Ihr Ziel ist es, das landwirtschaftliche Erbe auf möglichst viele einzelne Menschen zu verteilen. Diese sollen die alten Sorten in ihren eigenen Gärten wieder weitervermehren und so die alten Kulturpflanzen am Leben erhalten.
Denn auch das Wissen darum, welche Sorten unter welchen Bedingungen am besten gedeihen, muss erhalten und erweitert werden. Das funktioniert am besten, wenn möglichst viele Menschen an verschiedenen Orten diese Pflanzen kultivieren und ihre Erfahrungen austauschen. In der Arche Noah wird auch dieses Wissen rund um jede Pflanze erfasst. Denn ohne das dazugehörige Wissen geht ein archivierter Samen eben nicht auf. Wer sich auskennt, kann zum Beispiel sogar über 1000 Meter Seehöhe noch Marillen ernten, solange er sie an einer südseitigen Hauswand pflanzt. In warmen Regionen hingegen braucht der Marillenbaum etwas Schatten, damit er nicht schon vor dem letzten Frost zu blühen beginnt.


Das Gesetz der Vielfalt
Wozu machen sich die Seedsavers der Welt aber diese Mühe? Genügen nicht auch 20 Sorten Äpfel anstatt der rund 1 000 Sorten, die derzeit in Österreich wachsen? Und kämen wir nicht auch mit 120 Reissorten aus anstatt der weltweit 120 000? “Die Sortenvielfalt ist die genetische Basis für alle weiteren Züchtungen”, meint der Biologe Bernd Kajtna, stellvertretender Geschäftsführer der Arche Noah. “Wenn wir uns nur auf ganz wenige Sorten beschränken, dann ist ein Großteil der Möglichkeiten für die Entwicklung einer Pflanze ausgeschlossen.” Die  Ergebnisse aus Jahrtausenden menschlichen Ackerbaus und der damit verbundenen Saatgut-Züchtung könnten verloren gehen.
Gerade in Zeiten des raschen Klimawandels könnte die Sortenvielfalt sogar zum Lebensretter werden. Denn jede Pflanzenart hat sich über die Jahrtausende an die örtlichen Klima- und Bodenbedingungen angepasst. Ändern sich diese zu rasch – wie während eines plötzlichen Klimawandels – kann die Art nicht überleben. Eine andere Sorte, die die neuen Bedingungen verträgt, muss gepflanzt werden. Das ist aber nur möglich, solange es die anderen Sorten noch gibt.
Das haben auch die einzelnen Landwirtschaftsministerien, die EU und die Vereinten Nationen längst erkannt. Sie fördern viele internationale, aber auch regionale Projekte zur Erhaltung der Sortenvielfalt. Und Projekte gibt es viele. So bemüht sich die Initiative “Garten Vorarlbergs” um die Erhaltung der Streuobstwiesen im Rheintal. Denn vor allem in den Streuobstwiesen sind die alten Obstsorten noch sehr lebendig. Knorrige hunderjährige Apfel- und Birnbäume sind Teil einer reizvollen Landschaft und bringen ganz nebenbei und ohne Pflegeaufwand die köstlichsten Früchte hervor.
Das Projekt “Gene Save” in Tirol dokumentiert hunderte alter Landsorten aus dem Alpenraum und erzeugt Saat- und Pflanzgut für deren Verbreitung. Im Mostviertel kümmert sich der Verein Neue alte Obstsorten um die Erhaltung der regionaltypischen Mostbirnen. Und im südlichsten Winkel des Burgenlandes eröffnet gerade die jüngste Initiative innerhalb Österreichs ihre Gartentore: Im Sortengarten des “Obstparadieses” im Dreiländereck Österreich – Ungarn – Slowenien gedeihen die seltensten Steinobstsorten des Burgenlandes, darunter bisher undokumentierte Sorten wie der “Blaubereifte aus Langzeil”,  der “Gelbe aus dem Fleinergarten” und der “Große vom Kompost”.
Einer, der sich auf die Sortenvielfalt spezialisiert hat und sogar davon leben kann, ist der “Paradeiser-Kaiser” Erich Stekovics im burgenländischen Seewinkel. 3 200 verschiedene Tomatensorten wachsen auf seinen Feldern. Und jede hat ihren ureigenen Geschmack. Wer bisher nur die blassen Supermarkt-Tomaten kannte, kann auf Stekovics’ Paradeis-Feldern sein rotes, gelbes, grünes und violettes Wunder erleben. Und wer sich einmal hier durchgekostet hat, weiß woher der ursprüngliche Name der Paradeiser kommt – nämlich von Paradies – und verzichtet zukünftig auf die mehlige Einheitstomate.


Gigantischer Tiefkühler für Saatgut
Während also industrielle Landwirtschaftsbetriebe den Lebensmittelmarkt mit wenigen Sorten aus der Massenproduktion überschwemmen, kümmern sich Vereine, regionale und internationale Projekte und einzelne Idealisten um die Erhaltung eines möglichst großen Genpools für schlechtere Zeiten.
Im Februar 2008 haben sie Rückendeckung bekommen. Im Permafrost von Spitzbergen eröffnete ein gigantisches globales Samenarchiv. Hier soll das Saatgut von bis zu 4,5 Millionen Pflanzensorten aus aller Welt tiefgekühlt vor Umwelteinflüssen, Klimawandel und eventuellen Atomkriegen geschützt bleiben. Die Seedsavers der ganzen Welt können in diesem tiefgekühlten Samentresor Duplikate ihres wertvollen Saatguts hinterlegen. Allein die Errichtung des unterirdischen Archivs kostete umgerechnet 5,7 Millionen Euro.
Und trotzdem ersetzt Spitzbergen nicht die Arbeit der einzelnen regionalen Organisationen. Denn das Archiv ist zwar eine Absicherung für den Extremfall. Doch tatsächlich müssen die vielen seltenen Sorten für Landwirte und Gärtner zugänglich bleiben, angebaut und so am Leben erhalten werden. Und überhaupt: Würde eine zentrale Genbank die vielen kleinen Samenbanken der Welt ersetzen, widerspräche das allein schon wieder dem Gesetz der Vielfalt.