Evidenzbasierte Medizin: Was heißt hier wissenschaftlich erwiesen?

Sigrun Saunderson | Österreichische Ärztezeitung 21/2008

Der neue Boom heißt Evidenzbasierte Medizin und löst zumindest Sorge unter den Ärzten aus. So vernünftig die Nutzung wissenschaftlich fundierter Daten auch klingen mag – es kommt vor allem auf die Herkunft dieser Daten an.

Eine große, allen Ärzten zugängliche Datenbank mit Symptomen, Krankheiten und den dazugehörigen Statistiken zu den jeweils erfolgreichsten Behandlungsmöglichkeiten: Das würde den Arztberuf angenehm einfach machen und die Patienten gesund. Sofern die Patienten in eines der in den Statistiken vorgegebenen Muster passen. Das tun sie nachgewiesenermaßen selten, dennoch kann die Evidenzbasierte Medizin ein zusätzliches Werkzeug für den behandelnden Arzt liefern, mit dem er sich rasch Überblick über sämtliche wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einer bestimmten Krankheit und ihrer Behandlung verschaffen kann.
Genau das hatte wohl David L. Sackett, einer der Gründerväter der EBM, im Sinn. Er definiert Evidenzbasierte Medizin für die Praxis als "Integration individueller klinischer Expertise mit der best verfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung." So sieht es auch Prof. Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie an der Donau-Universität Krems: "Idealerweise sollten ärztliche Entscheidungen auf drei Säulen basieren: der ärztlichen Erfahrung und Intuition, den Patientenwerten und der wissenschaftlichen Evidenz."
Während aber Ärzte fürchten, dass durch die EBM bald die ärztliche Erfahrung nichts mehr gelte und einer "Kochbuchmedizin" weichen müsse, orten Verfechter der EBM eine derzeitige Übermacht der "Eminenz-basierten Medizin", die sich neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen verschließe. "Jede Einbeziehung von wissenschaftlicher Evidenz in ärztliche Entscheidungen sehe ich derzeit schon als Gewinn für den Patienten", so Gartlehner. "Langfristig sollte bei jeder Behandlung zumindest nachgewiesen werden, dass sie mehr nützt als schadet."
Daraus entstünde eine große allgemein zugängliche Datenbank der wissenschaftlich geprüften erfolgversprechenden Behandlungen und Medikationen. Doch wäre sie objektiv?


Wer zahlt, schafft an
Eben in der fehlenden Objektivität  sieht Prof. Ludwig Kramer, Forschungsreferent der Wiener Ärztekammer, das große Problem der EBM: "Prinzipiell ist die Entwicklung der EBM ein großer Fortschritt. In der Praxis bedeutet sie aber vor allem SBM – sponsorbasierte Medizin." Denn der finanzielle Aufwand einer klinischen Studie für Patientenversicherung, Personal-, Arzneimittel-, Labor- und Analysekosten ist so groß, dass Wissenschaftler finanzielle Unterstützung brauchen. Werden dann Universitäten kaum von der öffentlichen Hand gefördert, ist ihre Forschung auf Drittmittel aus der Industrie angewiesen.
Dass industriefinanzierte Studien aber eher Ergebnisse bringen, die der jeweiligen Industrie zugute kommen, sagt einem nicht nur der Hausverstand; es wurde auch schon mehrmals in Studien nachgewiesen.*)


Verzerrte Statistik
Dieser Bias innerhalb des wissenschaftlichen Studienmaterials entsteht nicht einmal unbedingt in unlauterer Absicht. Denn schon die Auswahl, welche Studie ein Unternehmen überhaupt unterstützt, bedeutet eine erste Verzerrung der Statistik. "Eine Pharmafirma finanziert eine Studie dann, wenn zu erwarten ist, dass ein neues Medikament Profit abwirft", so Kramer. Gilt es nachzuweisen, dass ein altes, billiges Medikament bisher unerkannte positive Wirkungen hat, oder dass Ernährungsumstellung eine signifikante Auswirkung auf die Herzinfarktrate hat, findet sich dafür kein Sponsor aus der Industrie. Diese Therapiemöglichkeiten werden daher in evidenzbasierten Richtlinien nicht oder nur am Rande aufscheinen.
Diesem Missstand könnte ein unabhängiger Forschungsfonds Abhilfe schaffen, meint auch Gartlehner. "Es wäre schön, wenn es auch in Österreich oder Europa eine Institution wie das amerikanische National Institute of Health geben würde, das jene Studien finanziert, an denen die Industrie kein Interesse hat."
Doch auch dann ist die Verzerrung immer Teil der EBM-Wahrheit. Denn schließlich werden bei weitem nicht alle Studien hochkarätig publiziert und negative Ergebnisse fallen oft unter den Tisch. "Studien mit sensationellen Erfolgen neuer Therapien werden von Wissenschaftsmagazinen wie dem 'Lancet' gerne veröffentlicht", so Kramer. "Eine Studie, die nachweist, dass zum Beispiel Stammzelltherapie nicht wirkt, wird hingegen kaum groß herauskommen. FDA-Daten belegen sogar, dass nur drei von 22 negativen Studien zu Antidepressiva überhaupt publiziert wurden, aber 36 von 37 positiven Studien." Nur wenn aber alle Ergebnisse publiziert würden, wäre das eigentliche Ziel der evidenzbasierten Medizin, nämlich Objektivität, erreicht. Die tatsächliche Entwicklung geht jedoch laut Kramer teilweise in die entgegengesetzte Richtung: "Der Organisationsaufwand für klinische Studien ist durch die EUDRACT-Direktive 2004 so massiv gestiegen, dass die oft neben ihrer Arbeit forschenden Kliniker selbständige Arzneimittelstudien so gut wie nicht mehr durchführen können. Dabei haben sie keinerlei Zugriff auf die EUDRACT- Datenbank!"


EBM in der Komplementärmedizin
Besonders schwer hat es in dieser Diskussion die Komplementärmedizin. Denn hier fehlen meist die nötigen Forschungsergebnisse, die den Anforderungen der EBM genügen würden. "Bei den meisten komplementärmedizinischen Methoden steht keine ausreichend große Industrie dahinter, um großangelegte Studien zu finanzieren", meint Prof. Michael Frass, Präsident des Dachverbands der österreichischen Ärzte für Ganzheitsmedizin.
Frass fürchtet sich jedoch nicht davor, die Wirksamkeit der komplementärmedizinischen Methoden beweisen zu müssen. "Je mehr man die Komplementärmedizin auf ein wissenschaftliches Niveau bringen kann, desto besser kann man die Scharlatanerie in Schach halten." Um jedoch zum Beispiel die Wirkung der Homöopathie wissenschaftlich nachweisen zu können, sind andere Studienvoraussetzungen notwendig, als sie die EBM gewöhnlich anwendet. Schließlich ist die Wahl eines homöopathischen Mittels vom einzelnen Patienten abhängig, die Wirkung eines Medikaments kann nicht auf alle Patienten übertragen werden.
Die Wissenschaft hätte aber auch dafür eine passende Methode: "Mit einer Cluster-Randomisierung lassen sich zwei Gruppen von Patienten mit einer bestimmten Krankheit vergleichen", so Gartlehner. "Behandelt man eine Gruppe zum Beispiel homöopathisch und eine andere traditionell, so kann man am Ende einfach den Behandlungserfolg vergleichen." Fehlt also nur noch die Finanzierung solcher Studien, um der Wahrheit über die Wirkung oder Unwirksamkeit komplementärmedizinischer Methoden näher zu kommen.


Wahrheitssuche
Mit Betonung auf "näher kommen". Denn die EBM wird weder in der Komplementärmedizin noch in der Schulmedizin die absolute Wahrheit finden können. Medikamente und Behandlungsmethoden ausschließlich nach den Prinzipien der EBM zu beurteilen, wird daher am Patientenwohl genauso vorbeigehen, wie die oft kritisierte "Eminenz-basierte Medizin", die sich ausschließlich auf die Erfahrung des Arztes verlässt. "Worum es am Ende gehen wird", so Kramer, " ist es zu lernen, Marketing, Kochbuchmedizin und wertvolle Evidenz auseinanderzuhalten.“

*) Lexchin et al.: Pharmaceutical industry sponsorship and research outcome and quality: systematic review. British Medical Journal 2003
Bandhari et al.: Association between industry funding and statistically significant pro-industry findings in medical and surgical randomized trials. Canadian Medical Association Journal 2004.
Yaphe et al.: The Association between funding by commercial interest and study outcome in randomized controlled drug trials. Family Practice, Oxford University Press 2001.